Die ewige spirituelle Seele
Die Seele – Atma – Jiva-Atma
A.C. Bhaktivedanta Swami Srila Prabhupada
न जायते म्रियते वा कदाचिन्नायं भूत्वा भविता वा न भूयः ।
अजो नित्यः शाश्वतोऽयं पुराणो न हन्यते हन्यमाने शरीरे ॥२०॥
na jāyate mriyate vā kadācin / nāyaṁ bhūtvā bhavitā vā na bhūyaḥ
ajo nityaḥ śāśvato ‚yaṁ purāṇo / na hanyate hanyamāne śarīre
„Für die Seele gibt es weder Geburt noch Tod. Auch hört sie – da sie einmal war – niemals auf zu sein. Sie ist ungeboren, ewig, immerwährend, unsterblich und urerst. Sie wird nicht getötet, wenn der Körper erschlagen wird.“ (BG 2.20)
ERKLÄRUNG: Der Qualität nach ist das winzig kleine fragmentarische Teil des Höchsten Spirituellen Wesens mit dem Höchsten eins. Im Gegensatz zum Körper ist es keinem Wandel unterworfen. Manchmal wird die Seele auch „die Immerwährende“ (kūṭastha) genannt. Der Körper unterliegt sechs Arten des Wandels. Er wird im Mutterleib geboren, bleibt dort für einige Zeit, wächst heran, zeugt Nachkommen, wird allmählich alt und sinkt schließlich in Vergessenheit. Die Seele jedoch ist solchen Wandlungen nicht unterworfen. Die Seele selbst wird nicht geboren, aber weil sie einen materiellen Körper annimmt, wird der Körper geboren. Die Seele wird nicht geboren, und die Seele stirbt nicht. Alles was geboren wird muß sterben. Und da die Seele nie geboren wurde, kennt sie weder Vergangenheit noch Gegenwart, noch Zukunft. Sie ist ewig, immerwährend und urerst – das heißt, es gibt in der Geschichte keine Spur ihrer Entstehung. Unter dem Einfluß der körperlichen Vorstellung suchen wir jedoch nach dem Zeitpunkt ihrer Geburt usw. Die Seele wird im Gegensatz zum Körper niemals alt. Daher fühlt der sogenannte alte Mann, daß er das gleiche spirituelle Wesen wie in seiner Kindheit oder Jugend ist. Die Seele wird von den Wandlungen des Körpers nicht berührt. Die Seele verkümmert nicht wie ein Baum oder irgendetwas anderes materielles. Die Seele hat auch keine Nachkommen. Die Nebenprodukte des Körpers, die Kinder, sind auch verschiedene individuelle Seelen, und nur weil ihre Körper von anderen Körpern erzeugt wurden, erscheinen sie als Kinder bestimmter Eltern. Der Körper entwickelt sich, weil die Seele anwesend ist, aber weder hat die Seele Abkömmlinge noch unterliegt sie dem Wandel. Daher ist die Seele frei von den sechs Wandlungen des Körpers. In der Kaṭha Upaniṣad finden wir einen entsprechenden Vers:
na jāyate mriyate vā vipaścin / nāyaṁ kutaścin na vibhūva kaścit
ajo nityaḥ śāśvato ‚yaṁ purāṇo / na hanyate hanyamāne śarīre.
(Katha 1.2.18)
Die Übersetzung und Erklärung ist die gleiche wie die des Bhagavad-gītā-Verses. Aber hier in diesem Vers gibt es ein besonderes Wort, vipaścit; es bedeutet gelehrt oder mit Wissen.
Die Seele ist immer voller Wissen bzw. Bewußtsein. Daher ist Bewußtsein das Symptom der Seele. Selbst wenn man die Seele nicht im Herzen findet, so kann man doch ihre Gegenwart sehr einfach durch die Anwesenheit von Bewußtsein erkennen. Weil sich Wolken vor die Sonne geschoben haben, oder aus irgendeinem anderen Grund, können wir sie manchmal am Himmel nicht sehen; doch ihr Licht ist immer da, und daher wissen wir, daß es Tag ist. Sobald es frühmorgens ein wenig hell wird, können wir verstehen, daß die Sonne aufgegangen ist. In ähnlicher Weise können wir auch die Gegenwart der Seele verstehen, da in allen Körpern – gleichgültig ob Mensch oder Tier – Bewußtsein vorhanden ist. Dieses Bewußtsein der Seele unterscheidet sich jedoch vom Bewußtsein des Höchsten, da das höchste Bewußtsein allumfassendes Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besitzt. Das Bewußtsein der individuellen Seele hat die Neigung zu vergessen. Wenn sie ihre wahre Natur vergißt, erhält sie aus den erhabenen Lehren Kṛṣṇas Erziehung und Erleuchtung. Aber Kṛṣṇa ist nicht wie die vergeßliche Seele; wenn Kṛṣṇa vergeßlich wäre, würden Seine Lehren in der Bhagavad-gītā nutzlos sein. Es gibt zwei Arten von Seelen: die winzig kleine Seele (aṇu-ātmā) und die Überseele (vibhu-ātma). In der Kaṭha Upaniṣad finden wir einen ähnlichen Abschnitt; er lautet:
aṇor aṇīyān mahato mahīyān / ātmāsya jantor nihito guhāyām
tam akratuḥ paśyati vīta-śoko / dhātuḥ prasādān mahimānam ātmanaḥ
„Sowohl die Überseele (Paramātmā) als auch die winzig kleine Seele (jīvātmā) sitzen auf dem Baum des Körpers im Herzen des Lebewesens. Nur wer von allen materiellen Wünschen und Klagen frei geworden ist, kann durch die Gnade des Herrn die Herrlichkeit der Seele verstehen.“ (Katha 1.2.20)
Kṛṣṇa ist auch der Ursprung der Überseele, wie in den folgenden Kapiteln enthüllt werden wird, und Arjuna ist die winzig kleine Seele, die ihre wahre Natur vergißt; daher ist es für sie notwendig, von Kṛṣṇa oder Seinem echten Repräsentanten (dem echten spirituellen Meister) erleuchtet zu werden.
देहिनोऽस्मिन्यथा देहे कौमारं यौवनं जरा ।
तथा देहान्तरप्राप्तिर्धीरस्तत्र न मुह्यति ॥१३॥
dehino ’smin yathā dehe / kaumāraṁ yauvanaṁ jarā
tathā dehāntara-prāptir / dhīras tatra na muhyati
„Wie die verkörperte Seele fortwährend, in diesem Körper von Kindheit zu Jugend und zu Alter, wandert, so geht sie auch beim Tode in einen anderen Körper ein. Die selbstverwirklichte Seele wird von einem solchen Wechsel nicht verwirrt.“ (BG 2.13)
ERKLÄRUNG: Da jedes Lebewesen eine individuelle Seele ist, wechselt es seinen Körper in jedem Augenblick und manifestiert sich manchmal als Kind, manchmal als Jugendlicher und manchmal als alter Mann. Dennoch ist die gleiche Seele vorhanden, denn sie ist keinem Wandel unterworfen. Diese individuelle Seele wechselt den Körper zum Zeitpunkt des Todes endgültig und geht in einen anderen Körper ein. Da sie mit Sicherheit bei der nächsten Geburt einen anderen Körper erhält – entweder einen materiellen oder einen spirituellen –, gab es für Arjuna keinen Grund, den Tod zu beklagen, auch den Tod Bhīṣmas oder Droṇas nicht, über die er sich so viele Gedanken machte. Vielmehr sollte er sich darüber freuen, daß sie ihre alten Körper gegen neue tauschen und dadurch ihre Energie erneuern würden. Solche Wechsel des Körpers, die sich entsprechend unserer Handlungsweise im Leben vollziehen, bestimmen die vielfältigen Freuden oder Leiden des Lebewesens. Da Bhīṣma und Droṇa edle Seelen waren, würden sie sicherlich in ihrem nächsten Leben entweder spirituelle Körper oder zumindest ein Leben in himmlischen Körpern erhalten, in denen ein höherer Genuß des materiellen Daseins möglich wäre. In beiden Fällen gab es also keinen Grund zu klagen.
Jeder Mensch, der vollkommenes Wissen über die Beschaffenheit der individuellen Seele, der Überseele und der materiellen wie auch der spirituellen Natur besitzt, wird dhīra (ein höchst besonnener Mensch) genannt. Ein solcher Mensch wird niemals durch den Wechsel der Körper irregeführt. Die Māyāvādī-Theorie, nach der es nur eine Seele gibt, kann nicht damit begründet werden, daß die Seele nicht in fragmentarische Teile zerlegt werden kann und daß ein solches Zerlegen in verschiedene individuelle Seelen den Höchsten teilbar und wandelbar machen würde, was dem Prinzip widerspräche, daß die Höchste Seele unwandelbar ist.
Wie in der Gītā bestätigt wird, existieren die fragmentarischen Teile des Höchsten ewiglich (sanātana) und werden kṣara genannt, was bedeutet, daß sie die Neigung haben, in die materielle Natur herunterzufallen. Diese fragmentarischen Teile sind ewiglich so beschaffen, und selbst nach ihrer Befreiung bleibt die individuelle Seele das gleiche fragmentarische Teil. Aber einmal befreit, lebt sie zusammen mit der Höchsten Persönlichkeit Gottes ein ewiges Leben voller Glückseligkeit und Wissen. Am Beispiel der Reflexion kann man die Überseele verstehen, die als Paramātmā – vom individuellen Lebewesen verschieden – in jedem einzelnen individuellen Körper anwesend ist. Wenn der Nachthimmel im Wasser reflektiert wird, sind in der Spiegelung sowohl der Mond als auch die Sterne zu sehen. Die Sterne können mit den Lebewesen verglichen werden und der Mond mit dem Höchsten Herrn. Die individuelle, fragmentarische Seele wird von Arjuna repräsentiert und die Höchste Seele von Śrī Kṛṣṇa, der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Wie zu Beginn des Vierten Kapitels deutlich wird, befinden sie sich nicht auf der gleichen Ebene. Wenn sich Arjuna auf der gleichen Ebene wie Kṛṣṇa befände und Kṛṣṇa nicht über Arjuna stände, würde ihre Beziehung als Lehrer und Schüler ihre Bedeutung verlieren. Wenn sie beide durch die illusionierende Energie (māyā) irregeführt wären, würde es nicht notwendig sein, daß der eine der Lehrer und der andere der Schüler ist. Solche Unterweisungen wären nutzlos, da niemand, der sich in der Gewalt māyās befindet, ein maßgebender Lehrer sein kann. Hier wird erklärt, daß Sich Śrī Kṛṣṇa, der Höchste Herr, in einer höheren Position befindet als das Lebewesen Arjuna, einer von māyā irregeführten, illusionierten Seele.
अविनाशि तु तद्विद्धि येन सर्वमिदं ततम् ।
विनाशमव्ययस्यास्य न कश्चित्कर्तुमर्हति ॥१७॥
avināśi tu tad viddhi / yena sarvam idaṁ tatam
vināśam avyayasyāsya / na kaścit kartum arhati
„Wisse, das, was den gesamten Körper durchdringt, ist unzerstörbar. Niemand kann die unvergängliche Seele töten.“ (BG 2.17)
ERKLÄRUNG: Dieser Vers erklärt noch deutlicher das wirkliche Wesen der Seele, das über den gesamten Körper verbreitet ist. Jeder kann verstehen, was über den gesamten Körper verbreitet ist: es ist Bewußtsein. Jeder ist sich der Schmerzen und Freuden bewußt, die entweder in einem Teil des Körpers oder im gesamten Körper empfunden werden. Diese Verbreitung des Bewußtseins beschränkt sich jedoch auf den eigenen Körper. Die Schmerzen und Freuden des einen Körpers sind dem anderen unbekannt. Daher ist jeder einzelne Körper die Verkörperung einer individuellen Seele, und das Symptom für die Anwesenheit der Seele wird als individuelles Bewußtsein erfahren. Aus den vedischen Schriften erfahren wir, daß die Seele so groß wie der zehntausendste Teil einer Haarspitze ist. Die Śvetāśvatara Upanisad bestätigt dies wie folgt:
bālāgra-śata-bhāgasya śatadhā kalpitasya ca
bhāgo jīvaḥ sa vijñeyaḥ sa cānantyāya kalpate
„Wenn eine Haarspitze in hundert Teile und jedes dieser Teile in weitere hundert Teile zerlegt wird, dann entspricht eines dieser Teile der Größe der Seele.“ (Śvet 5.9)
Im Bhāgavatam wird diese Tatsache in ähnlicher Weise erklärt:
keśāgra-śata-bhāgasya śatāṁśaḥ sādṛśātmakaḥ
jīvaḥ sūkṣma-svarūpo ‚yaṁ saṅkhyātīto hi cit-kaṇaḥ
„Es gibt unzählige winzig kleine, spirituelle Atome, und jedes von ihnen ist so groß wie der zehntausendste Teil einer Haarspitze.“ Daher ist die individuelle Seele ein spirituelles Atom, das kleiner ist als die materiellen Atome; es gibt eine unbegrenzte Anzahl solcher Atome. Dieser winzige kleine spirituelle Funke ist das grundlegende Prinzip des materiellen Körpers, und wie sich der Einfluß eines Medikaments im gesamten Körper zeigt, so ist der Einfluß eines solchen spirituellen Funkens über den ganzen Körper verbreitet. Diese Ausbreitung der Seele wird überall im Körper als Bewußtsein wahrgenommen, und das ist der Beweis für die Gegenwart der Seele. Jeder Laie kann verstehen, daß ein Körper ohne Bewußtsein ein toter Körper ist und daß dieses Bewußtsein im Körper durch keine materiellen Bemühungen wiederbelebt werden kann. Bewußtsein hat daher seinen Ursprung nicht in einer Verbindung materieller Elemente, sondern geht von der Seele aus. In der Muṇḍaka Upaniṣad wird das Ausmaß der winzigen Seele weiterhin erklärt:
eṣo ‚ṇurātmā cetasā veditavyo / yasmin prāṇaḥ pañcadhā saṁviveśa
prāṇaiś cittaṁ sarvam otam prajānāṁ / yasmin viśuddhe vibhavaty eṣa ātmā
„Die Seele ist winzig klein und kann nur durch vollkommene Intelligenz wahrgenommen werden. Diese winzig kleine Seele schwebt in fünf verschiedenen Luftarten (prāṇa, apāna, vyāna, samāna und udāna) innerhalb des Herzens und verbreitet ihren Einfluß über den gesamten Körper des verkörperten Lebewesens. Wenn die Seele von der Verschmutzung durch die fünf verschiedenen Arten materieller Luft gereinigt ist, entfaltet sich ihr spiritueller Einfluß.“ (Muṇd. 3.1.9)
Das haṭha-yoga-System ist dazu gedacht, die fünf Luftarten, die die reine Seele umkreisen, durch verschiedene Sitzstellungen zu kontrollieren. Das Ziel ist nicht materieller Gewinn, sondern die Befreiung der winzigen Seele aus der Verstrickung in die materielle Atmosphäre.
Die Beschaffenheit der winzigen Seele wird in allen vedischen Schriften beschrieben, und jeder geistig gesunde Mensch kann ihr Vorhandensein tatsächlich in seinem Leben erfahren. Nur ein Verrückter kann glauben, daß diese winzig kleine Seele das alldurchdringende Viṣṇu-tattva (Gott) ist.
Der Einfluß der winzigen Seele kann vollständig über einen einzelnen Körper verbreitet werden. Nach der Aussage der Muṇḍaka Upaniṣad befindet sich eine solche winzige Seele im Herzen jedes Lebewesens, und da die Größe der unvorstellbar kleinen Seele jenseits der Reichweite der materiellen Wissenschaft liegt, behaupten einige verblendete Wissenschaftler, daß es keine Seele gebe.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß die individuelle, winzige Seele zusammen mit der Überseele im Herzen weilt und daß daher alle Energien, die zur Bewegung des Körpers benötigt werden, aus diesem Teil des Körpers kommen. Die roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff aus der Lunge entnehmen, erhalten ihre Energie von der Seele. Wenn die Seele den Körper verläßt, kommen die Aktivitäten des Blutes und die energieerzeugenden Verbrennungsvorgänge zum Stillstand. Die medizinische Wissenschaft akzeptiert zwar die Bedeutung der roten Blutkörperchen, aber sie kann nicht herausfinden, daß die Quelle der Energie die Seele ist. Auf der anderen Seite aber gibt die medizinische Wissenschaft zu, daß das Herz das Zentrum aller Energien des Körpers ist.
Diese winzig kleinen Bestandteile des spirituellen Ganzen werden mit den Molekülen des Sonnenscheins verglichen. Im Sonnenschein gibt es unzählige strahlende Moleküle. In ähnlicher Weise sind auch die fragmentarischen Teile des Herrn winzige Funken in den Strahlen des Höchsten, die prabhā (höhere Energie) genannt werden. Weder das vedische Wissen noch die moderne Wissenschaft verleugnen die Existenz der spirituellen Seele im Körper, und die Wissenschaft von der Seele wird ausführlich von der Höchsten Persönlichkeit Gottes Selbst in der Bhagavad-gītā erklärt.
– Bhagavad Gita ‚Wie Sie Ist‘ –
A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda